Wer hat Biss?

Wie 2 sich finden, um Partner zu werden…

Teil sechs

Als ich mir vor zwei Jahren mein erstes Pferd kaufte, wusste ich zwar, dass jedes Pferd seine eigene Persönlichkeit hat, doch irgendwie glaubte ich, dass alle Pferde gleich sind. Ich wusste es nicht besser. In den vergangenen zwei Jahren durfte ich lernen, worin die Gleichheiten und auch die Unterschiede bestehen. Und ich lerne noch immer.

Die zweifelnden Äußerungen meiner Mitmenschen, ob ein spanisches Vollblut für mich geeignet wäre, konnte ich nicht nachvollziehen. ‚Warum nicht‘? dachte ich. ‚Sie sind schnell und temperamentvoll. Und dann noch eine Stute! Bist du sicher‘? bekam ich zur Antwort. Ja, mein Herz war und ist sich sicher. Und auch Stella sah das so. Das Wachstum, das sie mir abverlangt, habe ich bitter nötig.

Stella hat das, was man bei einem Menschen Charme nennen würde. Ich bin anfällig dafür. Und so dauerte es lange bis ich erkannte, was vor sich ging, wenn Stella ihre Nase sanft blubbernd an mich drängte. Ich spürte ihre allgemeine Verunsicherung und ihre Verletzlichkeit… und ohne die Folgen zu erkennen, gab ich ihr in diesem und jenem Moment nach. Das schien eine ganze Zeit lang gut zu gehen. Madam folgte mir zumeist und wenn sie ihr Veto einlegte, agierte ich mit unendlicher Geduld. Ich folgte meinem inneren Gebot, nichts zu tun, womit Stella nicht einverstanden wäre. ‚Kollegial‘ und ‚schwesterlich‘ ging ich so an der Natur des Pferdes vorbei.

Irgendwann kam eine Wende. Weil ich nicht eindeutig fordern wollte und Stella einen so großen Anteil an unserem gemeinsamen Raum gab, begann sie zu fordern. Stella hat ja mein Problem nicht und sagte immer klarer, wie sie die Dinge haben möchte. Ganz leise fing das an. Mit stehen bleiben, überholden, nach dem Strick schnappen … dann nach meiner Führhand… und ich begann, mich zunehmend unwohl zu fühlen.

Die wiederkehrenden ‚Schnapp-Diskussionen‘ hatte ich nun endlich satt. Mir wurde klar, dass ich mich entscheiden muss. Wenn mein Pferd nach mir beißt, darf ich Biss entwickeln. Ich zog meine Grenzen, doch es dauerte lange, bis ich innerlich ruhig dabei bleiben konnte. Die blitzschnellen Wechsel von sanft und gehorsam zu energischen Meinungsäußerungen beutelten mich hin und her. Ich wurde innerlich weich, wenn sie brav war und gestresst, wenn sie stark auftrat. Mit innerer Stärke hatte das wenig zu tun.

‚Nein‘ sagen, ohne Härte, ohne Zorn, ohne Verkrampfung, ohne Zweifel… in meinem Fall auch ohne Schuldgefühle…, das gelang mir ab und zu, dann mal eine Zeit lang, doch nicht konstant. Für mich war und ist das eine Mammut-Aufgabe. Schon früh in meinem Leben wurde mir abtrainiert, meine Grenzen zu setzen oder gar mich zu wehren. Als meine Aggressionen sich dann in der Pubertät begannen, nach außen zu richten, folgte was folgen muss… die Grenzsetzung von außen. Ich begann die Gegenbewegung in die Depression. Jeder geht durch seine eigene Hölle. Meine schien mir damals endlos. Dennoch: ich bin einen weiten Weg gegangen und ich durfte unglaublich viel dabei lernen.

Jetzt habe ich meine Meisterin gefunden. All die Reste von Instabilität, von mich klein machen, gefallen wollen und Zweifeln an meinem Recht Da Sein zu dürfen… mit Stella entdecke ich sie. Wenn ich nicht willig bin, zu mir zu stehen und mich zu behaupten, sie ist es! Die Erkenntnis, dass ich bei meinen Vorhaben bleiben darf, obwohl jemand, der mir wichtig ist, das als Zumutung empfindet, darf noch tiefer in mein Herz sinken.

Die alten Glaubenssätze kommen auf den Tisch. Heilung geschieht. Dadurch, dass ich Biss entwickle, werde ich mit Vertrauen und einer noch tieferen Verbindung beschenkt. Dieses Mal werde ich nicht verlassen, ausgestoßen oder ähnliches. Die Wahrheit entfaltet sich: ich darf sein, ich SOLL sein. Spürbar, eindeutig, klar und ich soll GRENZEN setzen. Ich soll meine Grenze spüren und sie meinem Gegenüber zumuten! Stella will diese Stärke in mir spüren und sie zeigt mir, wie einfach es sein kann, indem sie mir ihre Stärke wann immer es ihr passt zumutet.

Fortschritt geschieht nicht über Nacht. Und so folge ich einem Tanz. Zwei Schritte vor – einen zurück – zwei Schritte vor… Mit jedem ‚zurück‘ blicke ich eine Schicht tiefer, begreife ich umfassender, wie jede Bewegung, alles Fühlen und Denken in einander verwoben ist. Verstrickungen lösen sich und eine neue Vorwärtsbewegung wird möglich. Bis neue, noch tiefer liegende Selbst-Sabotage-Muster sichtbar werden. Manchmal fühlt es sich so an, als würde sich das Thema niemals auflösen lassen. Dann denke ich an die Antwort, die meine Kollegin Elgin Braun von den Pferden zurückbrachte: „Abschnauben und weitermachen.“

Ja, das Ziel gibt nur die Richtung vor. Es sind die einzelnen Schritte, die den Weg ausmachen. Also schnaube ich ab und mache weiter. In jedem Fall führt mein Weg in die Freiheit!

Weiter in Teil 7