Wer hat die Vorderhand?

Wie 2 sich finden, um Partner zu werden..

Teil vier

Als Stella zu mir kam und ich begann, mit ihr zu üben, war sie nur sehr schwer dazu zu überreden, mit ihrer Vorderhand von mir zu weichen. Sie blieb einfach stehen, lehnte sich gegen mich, versuchte mir den Weg abzuschneiden und wenn alles nichts half, schnappte sie nach mir mit deutlichem Missfallen im Gesicht.

Heute weicht sie, doch noch immer unwillig. Es gibt Übungen, da geht das prima. Slaloms können weich verlaufen oder wenn sie auf der Innenseite des Kreises geht. Und weil es im Alltag beim Führen und bei den meisten Übungen halbwegs zufriedenstellend klappt, habe ich in den letzten Monaten versäumt, am Thema zu bleiben.

Doch es ist ihre Vorderhand, mit der sie immer wieder in meinen Raum eindringt, wenn sie der Ansicht ist, wir sollten etwas Anderes tun, als ich gerade möchte. Sie tut das fast immer auf so eine liebevolle Weise, dass ich mich kaum bedrängt fühle. Ja, mein ’soft spot‘. Sie kennt mich genau und es braucht nicht viel, um mein Herz zu berühren…. und schwupps, die rosarote Brille und ich werde weich wie Butter. An dieser Stelle lerne ich nur langsam. Doch immerhin, ich lerne. Sie lehrt mich! Das nette und freundliche Pferd schiebt vertrauensvoll und bestimmt an mir vorbei. 

Anfangs habe ich gelacht, so unerfahren war ich. Dann war ich empört. Es folgten Hilflosigkeit und Zorn. Persönlichkeitsentwicklung durch das Pferd! Jetzt kann ich die meiste Zeit in einer Art liebevoller Stille bleiben und korrigieren, was zu ändern ist. Die meiste Zeit…

Stellas Vorderhand auf Abstand von mir zu halten hat mich lange Zeit an den Rand meiner Kräfte gebracht, weil mir die nötige Substanz fehlte. Nach einiger Zeit war ich einfach nur froh, über die Errungenschaften und hatte wenig Ambition, wieder an diese Grenzen zu gehen. Ich fühle mich jetzt stärker, klarer und sicherer. Und Stella ist wenig begeistert, dass die ‚Schonzeit‘ vorbei ist.

Wir beide, Stella und ich, haben diese Schonzeit gebraucht. Um nach all dem Aufruhr in und um uns, wieder zu uns zu finden. Um zu lernen, zu wachsen und sicherer zu werden. Ich hatte unendlich viel zu lernen in unseren ersten 18 Monaten. Ich erzähle darüber in meinem Buch. Jetzt geht das Wachstum weiter. Vor allem, doch nicht nur, für mich. Denn ich darf lernen, meine Tendenz schonen zu wollen, aufzugeben.

Ich hatte keine Erfahrung mit einem Pferd, das auf kleine Signale so starke Reaktionen zeigt. Und ich war ziemlich beeindruckt und irgendwann verunsichert. Mir war nicht klar: ist mein Pferd so ausdrucksstark oder gebe ich die ‚falschen‘ Signale. Jetzt weiß ich, beides stimmt. Wenn meine Signale auch nicht falsch waren, so war doch meine Energie wenig vorteilhaft. Meine Zweifel, mein ‚es richtig machen wollen‘, meine persönlichen Konflikte mit verschiedenen Themen, all das spielte eine Rolle. Ich durfte durch eine Reihe von Eskalationen gehen, ehe ich auf Hinweise und Anleitung stieß, die mir halfen zu verstehen, woran ich scheiterte.

Als erstes übte ich, innerlich wahrhaftig still zu werden. Ich übte das in der Herde und nahm die Reaktionen der Pferde auf mich als lebendiges Biofeedback. Das war unglaublich lehrreich. Dann begann ich, Steigerungen in meinem Ausdruck zu üben, während ich innerlich still blieb. Diese Übung bleibt mir… das habe ich bereits festgestellt.

Um Stellas Vorderhand zu bewegen, benötige ich genau diese Stille und zugleich eine felsenfeste Bestimmtheit, mit der ich ohne zu zögern doch sehr klar, die Stufen meiner Intensität steigere. Das bringt mich zum Lachen… denn ganz gleich, wie ich es in Worte fasse, es fällt mir schwer… Madam steht da, mit solcher Gelassenheit und einer Haltung von ‚und? – was willst du tun, wenn ich jetzt einfach gar nichts tue?‘ Denn wenn sie merkt, dass sie mein Vorhaben durch Nähe nicht abwenden kann, ist das ihre nächste Strategie. Und in diesen Situationen spüre ich wieder meine Grenzen. Irritation, Hilflosigkeit, Ungeduld… 

Ich nehme meine Gefühle wahr, atme aus, suche und finde meine innere Stille, denn vorher ist jede Aktion sinnlos. ‚Wer bin ich? Was fühle ich? Welcher Impuls steigt in mir auf? Alle Methoden und Technik los lassen, vergiss das ‚richtig machen‘. Vergiss alles. Sei da und fühle dich und fühle, was es jetzt braucht. Für mich und für Stella‘.

Die Spannung geht aus meinem Körper, ein Lächeln steigt auf und auch eine lockere Bestimmtheit. Wozu fuchtel ich mit der Gerte rum? Ich gehe zu meinem Pferd, greife das Seil unter dem Halfter, drehe ihren Kopf in die gewünschte Richtung und sage ihr ‚da lang… hopp jetzt!‘ – und wundersamer Weise gibt sie ein Seufzen von sich und geht los.

Das ist kein Rezept, nein. Es war die authentische Handlung für diesen Augenblick. Darum geht es. Madam konfrontiert mich mit passivem Widerstand und ich beginne zu hampeln, anstatt zu fühlen und nach der authentischen Lösung zu suchen. So sind wir Menschen.

Und noch genauer hingeschaut, beruht vielleicht sogar meine ganze Schwierigkeit, sie auf Abstand zu halten und ihre Vorderhand zu bewegen darauf, dass ich in mir selten ein Verlangen fühle, Stella von mir fort zu schicken. Und schon sind wir beim Thema Grenzen (Nähe – Distanz).

Sind Pferde nicht wahrhaftig die besten Lehrmeister?

Weiter in Teil 5